Friday, 30 October 2015

Von Wut, Verzweiflung und Hoffnung: "Urlaub" in Palästina



Ein Dorf hat hier mal gestanden, erzählt der einäugige Beduine, ein Dorf das reich war und schön und einen Basar hatte der es aufnehmen konnte mit dem von Damaskus. Oft ist er mit seinen Herden hier vorbeigekommen, im Hochsommer, um die Tieren zu tränken und seiner Frau ein neues Gewand zu kaufen. Damals, als es sie Quelle noch gab; als da wo heute nur die Stümpfe einiger längst vertrockneter Palmen stehen, noch Gemüse angebaut wurde, und Mais. Das Wasser das einst diese Quelle speiste, und in den sumpfigen Tälern des Jordan sogar Reisanbau ermöglichte, die einzige Quelle übrigens zwischen Jericho und dem Jordan, staut sich heute vor den hydaulischen Dämmen der 70iger Jahre. Staut sich und produziert Elektrizität für die zahlreichen israelischen Siedlungen, die es gibt, hier im Westjordanland, wird dann um- und abgeleitet in die Weinberge und riesigen Avocado Plantagen die das Tal säumen, deren Früchte wir Europäer so gern und unverwunden im Winter genießen.

Lektüre: „Making the Desert Bloom – Or: How Israel Drained the Jordan and then Blamed the Arabs.“
Soundtrack: Torabyeh - Ghorbah ft. Husam Abed

Pause.

Wir suchen Baby Jesus in Bethlehem. Ein orthodoxer Priester guckt uns ungehalten nach, den Zeigefinger mahnend in die Höhe gestreckt, als wir, albern kichernd, in einem Abflussrohr nach Jesus rufen. Würden wir ihn finden hätten wir immerhin endlich eine passende Antwort für die Zeugen Jehowas: „Guten Tag, kennen Sie Jesus Christus?“ „Ich habe nach ihn gesucht, wirklich. Sogar in der Taufschale seiner Kirche habe ich gesucht. Nur gefunden habe ich ihn nicht -  er muss sich verstecken.“
Falls es eine Hölle gibt, kommen wir da hin.. naja, wenigstens wird’s lustig.

Pause.

Sammeltaxi auf dem Weg nach Ramallah. Wie immer läuft das Radio bei voller Lautstärke und niemanden stört’s. Die Leute reden durcheinander, lachen, einige singen halblaut mit. Im tiefen gutturalen Ton der Sprache kündigt der Moderator die Morgennachrichten an. Und plötzlich ist es ganz still. In der Nähe von Nablus haben ultraorthodoxe Siedler im Haus einer palästinensischen Familie Feuer gelegt. Dabei ist ein 16 Monate alter Junge verbrannt. Seine Eltern sind mit Verbrennungen dritten Grades im Krankenhaus, ihre Prognose: schlecht. Ein kollektives Atemholen geht durch den Bus. Das Radio wird ausgestellt. Es ist Freitag Morgen, jeder weis, dass es am Nachmittag Ausschreitungen geben wird, geben muss, dass demonstriert werden muss – schon allein der Solidarität wegen.
Eine Stunde später gibt Bibi (besser bekannt als Arschloch-Netanjahu) zu verlauten, dass „solche Gewalttaten unnötig“ seien. Eine Woche später werden die Siedler zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Zwei Wochen später erliegen beide Elternteile ihren Verbrennungen.

Pause.

Was ist eigentlich Gerechtigkeit?

Pause.

Ramallah, die de-fakto Hauptstadt: Neoliberaler Traum aus Beton und Stahl. Wir sitzen an einem aus einer Quelle gespeisten Pool in der Innenstadt und trinken Margaritas zu 10€ das Stück. Im Hintergrund ist die Fassade eines riesigen Einkaufszentrum zu sehen an dem Markennamen wie Gucci und Prada in die Nacht leuchten.  Um uns herum tanzen Frauen, Männer und Kinder aller Altersstufen in Bikinis zu Eminem, singen lauthals mit oder küssen und fallen betrunken in den Pool. Ab und an kommt ein Mann von der Security und bittet darum, die Gläser vom Poolrand fernzuhalten.

Lektüre: A Guide to Ethical Consumption in Palestine.
Soundtrack: The Cranberries – Zombie (https://www.youtube.com/watch?v=6Ejga4kJUts)

Pause.

Von drei Seiten schallt uns auf dem Dorfplatz Musik entgegen. Es ist Samstag Nachmittag und von jeder der auf den Platz führenden Straßen kommt uns ein Zug Menschen mit Musik entgegen. Erst über eine Stunde später begreife ich, dass die drei Feste nichts mit einander zu tun hatten: von Osten der Begräbnismarsch des gestern erschossenen Jungen, von Nord-westen die Henna-Feier einer heute Nacht Heiratenden, von Süden der Festzug zur Taufe eines Neugeborenen. Nichts in mir kann diese bizarre Kombination von Festlichkeiten und die Normalität mit der sie als solche akzeptiert wird auch nur annähernd fassen – bis heute nicht.

Soundtrack: God of Revolution - إله الثورة - Tamer Nafar, Marwan Makhoul, Terez Sliman (https://www.youtube.com/watch?v=5zGnGeiMun8)

Pause.

Qalandia Checkpoint – der Hauptübergang von Israel in das Westjordanland. Ich stehe in der Schlange für Ausländer die nur ungefähr ein zehntel so lang ist wie die für Palästinenser und beobachte einen jungen Soldaten dabei, wie er eine am Stock gehende verschleierte Frau durchsucht: er fasst ihr zwischen die Beine, ins Haar, unter den Busen, und in den Mund, während sie zu Boden 
blickt, einsilbig leise auf seine gebrüllten Fragen antwortend. 

Pause.

Was ist eigentlich die Würde des Menschen?

Pause.

Jordantal. Noch fließt der Strom, der diesem Land eins seinen Namen gab. Noch fließt der Jordan, langsam und bedächtig, das Land in zwei teilend, teilend in Jordanien, die Ostbank, an der Frieden herrscht oder herrschen darf und die Westbank, das Westjordanland: besetzt, zerstückelt, eingezäunt, umkämpft. Die Palästinenser könnten doch einfach über den Fluss gehen, zu den Jordaniern, hieß es 1967. Sie würden sich schon arrangieren hieß es, seien doch eh alles nur Araber.
Wusstest du, dass die drittgrößte jordanische Stadt mit 600000 Einwohnern das T’sche Refugee Camp ist?

Lektüre: „Before their Nak’Ba: Arts and Culture around the Jordan Delta before 1948“

Pause.

Freitag Nachmittag, Birzeit. Wir sitzen vor dem Haus, trinken Kaffee und spielen Karten, als, von sehr nahe, ein Schuss zu hören ist. „MP“ stellt unser Gastgeber ungerührt fest – wie jeder hier kann er Waffen problemlos an den Geräuschen ihrer Schüsse erkennen. Keine 10 Sekunden später klingelt das Telefon. Weitere 5 Minuten später stehen wir auf einem den nächstgelegenen Checkpoint überblickenden Hügel. Unter uns, keine 200m entfernt, werfen Jungen von nicht mehr als 14 Jahren Steine auf Maschinenpistolen haltende israelische Soldaten, lachen, rennen weg, werfen wieder. Von den Soldaten rührt sich niemand. Einer der Jungen zieht einen Palästinensierschal aus der Tasche und bindet ihn sich vor’s Gesicht. Auf einmal bricht unter den Soldaten Stress aus: sie gestikulieren mit ihren Waffen, brüllen etwas, mehr Schüsse fallen. Der Junge stolpert rückwärts, fällt, und steht nicht wieder auf. Seine Freunde versuchen, ihn wegzuziehen. Mit unglaublicher Geschwindigkeit kommt ein Militärjeep angerast. 6 Soldaten springen heraus, treten und schieben die Kinder weg. Sie zerren den Verletzten ins Innere – sein Körper hinterlässt eine dunkelrote Spur auf dem Asphalt.

Wusstest du, dass Vermummung im israelischen Militärgesetz als bewaffneter Angriff gilt, auf den mit scharfer Munition regiert werden darf?

Soundtrack: Ringing Silence.

Pause.

Kurz vor Sonnenaufgang. Niemand schläft. Die Stimme de Muezzin schickt ihren rauen Ruf zum Morgengebet in die Nacht, übertönt jedoch tausendfach von den Motorengeräuschen in das Dorf rollender Panzer. Die Armee ist hier. Das kann nur einen Grund haben. Wir sitzen bei heruntergelassenen Jalousien und gelöschtem Licht, dich aneinander gedrängt auf dem steinernen Boden, wagen nicht zu reden, zu schlafen, kaum zu atmen,  und warten das Donnern an der Tür: Metallstäbe die gegen Holz krachen. Dass es heute Nacht nur weit entfernt zu hören, freut niemand – wieder hat eine Familie einen Sohn eingebüßt. Es könnte genauso gut uns treffen.

Lektüre: Gedankenfetzen, gelb – sollen wohl Erinnerungen darstellen.
Soundtrack: Yazan Shrouf – „1100 ma7al fadi“ (
https://www.youtube.com/watch?v=2cJkyTlMx74)

Pause.

Jericho, 10.30 morgens, 52°C. Bei diesen Temperaturen mit Tagen in kulturell passender Kleidung - also von Hand bis Fussgelenken bedeckt – den Berg der Versuchung zu erklettern ist fast so lustig, wie auf einer afghanischen Trauerfeier unzufällig die eigene Kotzgrenze zu überschreiten.
Wasserverbrauch: 2l/Aufstieg.

Pause.

Sonnenaufgang. Der tiefe Duft unbekannter, aber blühender Bäume und Pflanzen, der angenehm kühle Dunst des nahen Meeres. Ich krieche aus dem Zelt und lassen den Blick gleiten: über weite Hügel und grüne Täler, durchsetzt mit Oliven- und Zitronenbäumen, über Jurten wie unsere, umgeben von Erbsen und Bohnenfeldern, die jetzt im Hochsommer bereits abgeerntet sind, bleibe hängen an dem Beduinen weit in der Ferne, der eine Ziegenherde vor sich hertreibt, seinen Esel führend. Auf dem Plateau direkt unter mir säugt eine Hirtenhündin ihre drei Welpen und um mich herum erwachen die Bienen und Tiere, beginnen die Hähne zu krähen.
Und für einen Moment, einen ganz kurzen nur, glaube ich wirklich zu verstehen, warum es sich lohnt, für Heimat zu kämpfen. Warum Gewalt, Schikane, Mord und Internierung akzeptable Preise sein können: Weil der Traum einer Heimat mehr Hoffnung und Wahrheit verspricht, als die Besetzung je stehlen könnte. Und weil, wenn es sich dafür nicht zu kämpfen lohnt, auch sonst nichts den Kampf wert ist. 


Soundtrack: https://www.youtube.com/watch?v=vir5B-v4DeI