Von Raia Apostolova (Central European University)
Aus dem Englischen von Carmen
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass im öffentlichen Diskurs der letzten
zwei Wochen “Flüchtling” ein sicherer und einvernehmlicher Ersatz für das
diskreditierte Konzept “Migrant” geworden ist. Wie Bono, Stimme des
mainstream-westlichen guten Gewissens es beschrieb: “Wir sollten das Wort
Migrant nicht benutzen. Migrant ist ein politischer Begriff, der benutzt wird
um diesen Leuten ihren wahren Status zu entziehen. Sie sind Flüchtlinge.”
In diesem Artikel reflektiere ich darüber, wie wir in so kurzer Zeit hier
angekommen sind, und bieten einige rückblickende Hintergründe bezüglich der
institutionellen und kulturhistorischen Geschichte der Flüchtlings-Migranten
Debatte. Auf dem Spiel steht hier eine effektivere kritisch-kulturelle Analyse
des Vokabulars, das uns zur Verfügung steht um über soziale Probleme und
Phenomäne zu diskutieren.
Die Wortwahl der Medien verstehen: eine situationsbedingte Analyse
Am 20. August veröffentlichte Al-Jazeera einen Leitartikel mit dem Namen
“Warum Al Jazeera den Begriff Mediterrane ‘Migranten’ nicht gebraucht”. Der
Autor, Barry Maloner, erklärte, dass ‚Migrant’ ein dekorativer Sammelbegriff
sei, der die Schrecken der syrischen Erfahrung sowie Europas humanitäre
Verantwortung verschleiere. Durch den Gebrauch des Begriffes ‚Migrant’ “geben
wir solchen (Regierungen) mehr Gewicht,
die nur Wirtschaftsmigration sehen wollen”. Al Jazeera’s Darstellung von
Migrantensubjekten als Opfer ist ein Versuch der symbolischen Verlagerung durch
den der Sender bei Lesern und Edioren mehr Mitgefühl zu wecken sucht.
Diese Darstellung war zweifelsohne ein Erfolg. Al Jazeera’s
Glaubensbekundung erklang wie ein Gebetsruf, ein Gebetsruf dessen Wiederhall schnell in vielen der
internationalen Pressekanäle (zum Beispiel im Guardian, oder der Washington
Post) zu hören war. Der Guardian hinterfragte
die Legitimität von Berichten über Wirtschaftsmigranten und schlug stattdessen
vor, eine Geschichte über „Flüchtlinge“ „Asyl-Suchende“ und „Vertriebene“ zu
erzählen – mit anderen Worten: „eine Geschichte der Menschheit“. „Wirtschaftsmigranten
leiden, im Gegensatz zu Flüchtligen, nicht unter Verfolgung“ bekräftigte die
Huffington Post.
Die Auswirkungen von Al Jazeera’s Darstellung waren auch in sozialen
Netzwerken schnell zu merken. User begannen, sich gegenseitig herauszufordern
und zu zenisieren, wie der folgende Screenshot beweist:
Die Wortwahl ‚Flüchtling’ über ‚Migrant’ zu stellen war strategisch bedacht
und macht in Anbetracht Al Jazeera’s liberaler Neigung durchhaus Sinn. Deren
Absicht lag darin, die verzweifelten Bitten von Menschen zu betonen, die heute
versuchen, die Grenzen nach Europa zu überwinden – dabei ihr Leben und das
Ihrer Kinder riskieren; ihren Verstand aufs Spiel setzen im Angesicht der
erschütternden Umstände von überladenen Booten, übervölkerten Camps und anderen
unlebbaren und unausgestatteten Bahnhöfen in Budapest und anderswo. Der
Schwerpunkt war die Hervorhebung der Legitimität der flüchtenden syrischen
Bevölkerung, da diese ein kriegszerissenes Land zu verlassen sucht, an dessen
Zustand der Westen nicht ohne Verantwortung ist. Al Jazeera’s symbolische
Darstellung erweist sich als noch sinnvoller in Anbetracht der letzten globalen
Welle an der, den europaweiten Sparprogramme folgenden, rechtsextremen
Bewegungen und der Finanzkrise von 2008, die die ohnehin fragilen Identitäten
und Zugehörigkeiten von Migranten in Ihren Aufnahmeländern nicht nur weiter
diskreditierte, sondern selbige Länder auch vor vermeintlich harte Wahlen
stellte. In diesem ideologisch genährten Hintergrund erscheinen Flüchtlinge
tatsächlich Schutz-verdienender als „wir“, weil leidtragender und
verzweifelter. Flüchtlinge können in einer Weise als Opfer dargestellt werden,
die für Migranten egal welcher Art nicht zur Verfügung steht.
Die positiven Auswirkungen des Versuchs die Migranten von heute neu darzustellen
dürfen nicht unterschätzt werden. Die beispiellose Beweis der Sympatie
gegenüber Syriern in Deutschland, Österreich
und anderen westlichen Ländern in der vergangenen Woche ist vielleicht zum Teil
dieser symbolischen Umstellung zu verdanken. Allerdings stellen wir schon jetzt
die Kurzlebigkeit selbiger Empathie fest, nur wenige kurze Tage nachdem die
Medien Deutschland’s Großherzigkeit priesen. Österreich
und Deutschland haben ihre Grenzen wieder geschlossen und wie es scheint für länger.
Ungarn und andere Länder militarisieren und verzäunen unterdessen die ihrigen
Grenzen. Zudem zeigt sich seit Monaten in welchem Maße sich auch der Begriff
Flüchtling sich für einen Viktor Orban oder Nicolas Sarkozy instrumentalisieren
lässt: als ein Mittel um ganze Gruppen zu stigmatisieren, ob Migranten, Moslems
oder schlicht Ausländer.
Nach Situation und Strategie: Bedeutungsstruktur und Handlung
Einige wenige Stimmen
haben Al Jazeera’s Konsens in der Zwischenzeit in Frage gestellt. Selbige Stimmen
versuchen, kritische Aufmerksamkeit gegenüber der
repressiven Struktur des Flüchtling-Migranten Gegensatzes zu erwecken. Sie
stellen richtigerweise fest, dass diese Struktur mehr
Diskriminierung generiert als löst, weil sie Opfer gegen Opfer auszuspielen
versucht, zwei Leidtragende um die Anteilnahme der
westlichen Welt mit einander konkurrieren lässt und damit letztendlich globale
Ungleichheiten und die Grenzen reicher gegenüber armer Länder nicht nur
aufrechterhält, sondern sogar fördert. Solche Einsichten sind richtig und
wichtig, müssen jedoch um ihrer eigenen Bedeutung willen in historischer und
kultureller Perspektive erfolgen.
Die aktuelle Debatte
über Flüchtlinge und Migranten leitet sich direkt aus der Begriffsdeutung der Internationalen
Gesetzgebung ab. Laut der Vereinten Nationen trifft der Begriff ‚Migrant’ auf
all jene zu, die „die Entscheidung zur Migration frei treffen, aus Gründen des
‚persönlichen Nutzens oder Vorteils’ und ohne die Einflussnahme eines externen,
ausschlaggebenden Faktors“. Die Zweiteilung zwischen freiwilliger und
unfreiwilliger Migration in dieser Definition ist tatsächlich auffallend: Als
juristischer Begriff ist sie sowohl symbolisch wie materiell. Sie unterscheidet
‚wirtschaftliche’ von ‚politischen’
Migranten und es ist ebenfalls entlang dieser ursprünglichen Teilung, dass
Migranten im heutigen politischen Diskurs gemessen, hierarchisiert und
umstritten werden – der ‚gute’ gegen den ’schlechten’ Migranten, der ‚legale’
versus den ‚illegalen’, der ‚Gastarbeiter’ gegen den ‚Asylsucher’, der
‚Flüchtling’ gegen den ‚Eindringling’, der ‚Flüchtling’ gegen den ‚Terrorist’.
Die Teilung von
Migration in wirtschaftliche, (freiwillige) Migration und politische
(unfreiwillige) Flucht wurde 1945 in die internationale Gesetzgebung
aufgenommen, zu einer Zeit als politische Migration nur das Gegenstück
„Arbeitsflüsse“ kannte. Beide wurden vor Ende des Zweiten Weltkriegs as
„internationale Migration“ betrachtet und durch die ILO, die Internationale
Arbeitsorganisation beaufsichtigt. Mit der Bildung der Vereinten Nationen (UN)
1945, übernahm diese Organisation die Regulierung jener Migration, die als
politisch motiviert aufgefasst wurde. Diese neue Arbeitsteilung unter
internationalen Organisationen war Teil der institutionellen Entkoppelung von
politischen und ökonomischen Aktivitäten, wie sie Pahuja in ihren Buch
„Decolonizing International Law: Developmen, Economic Growth and the Politics
of Universality“ beschreibt.
Aus volkswirtschaftlichen
Dynamiken geboren, stellt die Zweiteilung von Migration in Migranten und
Flüchtlinge ein sozial-kulturelles Konstrukt, im klassischen Sinne der kontingenten
(situationsbedingten) Realität dar. Gleichzeitig ist sie tief verankert in
einem vermeintlich objektiven institutionellen Aufbau, dessen Bedeutungsstruktur
das Verständnis von Migrationsprozessen in der internationalen Politik nicht
nur gestaltet, sondern die Möglichkeit ihrer Auslebung grundlegend konditioniert.
Diese Struktur ist dual/zweiteilig und differenziert daher strikt zwischen politischen
und wirtschaftlichen Migranten, wobei erstere als Opfer von Gewalt und letztere
als freie, ökonomischen Gewinn suchende Kalkulatoren dargestellt werden. Wenn
wir also einen Begriff dieser Polarität gegenüber
einem anderen bevorzugt gebrauchen, könnten wir zu dem Schluss neigen eine
kritische Sichtweise zu vertreten, obwohl wir tatsächlich schlicht mit den
Werkzeugen eines kulturell bedingten Ausstattung spielen, die wir historisch
und institutionell widerspruchslos geerbt haben. Dieses Erbe ist, Al-Jazeera’s
dissendierende Darstellung beweist es, nur scheinbar kritisch. Vielmehr fördert
eine solche Darstellung (vielleicht ungewollt) eine Disposition von Dingen, sie
weder kontrolliert, noch anzusprechen beginnt.
„Migrant“: Die Sichtweise
radikal sozialer Bewegungen und kritischer Wissenschaft
Al Jazeera’s Strategie spielt nicht nur in die Hände eines stigmatisierenden
Repertoires von Etiketten, die Menschen aufgedrückt werden, es verstärkt diese
und deren Verwendbarkeit für Diskriminierungszwecke auch nachhaltig. Somit annulliert
und macht es ungeschehen die jahrelange symbolische Arbeit von politischen
Aktivisten/innen und kritischen Akademiker/innen, dessen Anliegen es eigentlich
war, den Begriff ‚Migrant’ als Teil einer weitreichenden politischen Strategie einzuführen.
Diese Bemühung, von Grassrootsinitiativen getragen, benutzt den Begriff ‚Migrant’
um darauf hinzuweisen, dass Migranten nicht nach ihren projizierten Motivationen
und Gründen differenzier- und diskriminierbar sind. Diese alternative
Sichtweise verwischt die Linie zwischen “Wirtschaftsmigranten” und
“Flüchtlingen”, “Legalen” und “illegalen” absichtlich, indem Versuch diese
Linie aufzuzeigen und zu entnormalisieren. Gesetztes Ziel hierbei ist es, in
den Begriff selbst eine Kritik an jenen Institutionen einzumeißeln, die
Migranten überhaupt erst unterscheiden, aufteilen und diskriminieren.
Gesetztes Ziel ist es somit auch, dem Begriff Migration wieder seine ursprünglich
wirtschaftliche und politische Doppelbedeutung zu verleihen. Nicht nur sind
(politische) Flüchtlinge fast immer auch Opfer scheiternder Wirtschaften innerhalb
eines global ungerechten Systems, sondern “Wirtschaftsmigration”, als Resultat
globaler Marktwirtschaft, ist selbst ein grundlegend politisches Problem und
muss als solches erkannt und behandelt werden. In dieser kritischen Version behält
der Begriff Migrant daher seine Funktion als Aufzeiger einer
Gesellschaftsklasse (in Marx’ Sinne) – eine Bedeutungsdimension die in der individualistisch
latenten Fiktion der ‚freiwilligen’ Wirtschaftsmigration ausradiert wird.
Einige abschließende Worte
Die linguistische und symbolische Unterscheidung zwischen “Flucht” und
“Migration” folgte einem institutionellen Spaltung, Resultat einer formellen
Trennung politischer und wirtschaftlicher Angelegenheiten im kapitalistischen
System der Nachkriegszeit. Geisteswissenschaftliche Theoretiker wie unter anderen
Karl Polanyi, Pierre Bourdieu oder Ellen Wood haben vorgeführt, dass solch eine
Spaltung situationsbedingt ungewiss ist, und außerdem schweren ideologischen
Ballast birgt. Aus diesem Grund
sind Migrationsdiskurse mit Machtkämpfen um Sprachbedeutungen gespickt, deren
Wetteinsätze aus materiellen und symbolischen Ressourcen bestehen. Noch so gute
Absichten müssen im Zaum gehalten werden um voreilige und häufig falsche
Rückschlüsse zu vermeiden – den Glauben, dass einen Migranten heute einen
Flüchtling nennen ihm morgen noch helfen wird, zum Beispiel.
Als Akademiker, als öffentliche Intellektuelle, als Wissenschaftler – es
ist für uns alle leicht, dem kategorischen Fetischismus anheim zu fallen, der
uns blind macht gegenüber der temporalen Dimension unserer diskursiven
Strategien. Einige dieser Strategien sind effektiv im Hinblick auf die
Gegenwart kompromittieren jedoch die Zukunft. Es ist unsere Aufgabe solchen
Fetischismus – ob symbolischen, kategorischen oder andersgearteten – zu
überwinden, indem wir jene Menschen und Lebensrealitäten sichtbar machen, die
von solchen Kategorien repräsentiert und daher eingeschlossen werden.