Tuesday, 29 September 2015

Von Flüchtlingen und Migranten: Stigma, Politik und Grenzarbreit an den Rändern Europas



Von Raia Apostolova (Central European University)
Aus dem Englischen von Carmen


Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass im öffentlichen Diskurs der letzten zwei Wochen “Flüchtling” ein sicherer und einvernehmlicher Ersatz für das diskreditierte Konzept “Migrant” geworden ist. Wie Bono, Stimme des mainstream-westlichen guten Gewissens es beschrieb: “Wir sollten das Wort Migrant nicht benutzen. Migrant ist ein politischer Begriff, der benutzt wird um diesen Leuten ihren wahren Status zu entziehen. Sie sind Flüchtlinge.”

In diesem Artikel reflektiere ich darüber, wie wir in so kurzer Zeit hier angekommen sind, und bieten einige rückblickende Hintergründe bezüglich der institutionellen und kulturhistorischen Geschichte der Flüchtlings-Migranten Debatte. Auf dem Spiel steht hier eine effektivere kritisch-kulturelle Analyse des Vokabulars, das uns zur Verfügung steht um über soziale Probleme und Phenomäne zu diskutieren.

Die Wortwahl der Medien verstehen: eine situationsbedingte Analyse

Am 20. August veröffentlichte Al-Jazeera einen Leitartikel mit dem Namen “Warum Al Jazeera den Begriff Mediterrane ‘Migranten’ nicht gebraucht”. Der Autor, Barry Maloner, erklärte, dass ‚Migrant’ ein dekorativer Sammelbegriff sei, der die Schrecken der syrischen Erfahrung sowie Europas humanitäre Verantwortung verschleiere. Durch den Gebrauch des Begriffes ‚Migrant’ “geben wir solchen (Regierungen) mehr Gewicht, die nur Wirtschaftsmigration sehen wollen”. Al Jazeera’s Darstellung von Migrantensubjekten als Opfer ist ein Versuch der symbolischen Verlagerung durch den der Sender bei Lesern und Edioren mehr Mitgefühl zu wecken sucht.

Diese Darstellung war zweifelsohne ein Erfolg. Al Jazeera’s Glaubensbekundung erklang wie ein Gebetsruf, ein Gebetsruf  dessen Wiederhall schnell in vielen der internationalen Pressekanäle (zum Beispiel im Guardian, oder der Washington Post) zu hören war.  Der Guardian hinterfragte die Legitimität von Berichten über Wirtschaftsmigranten und schlug stattdessen vor, eine Geschichte über „Flüchtlinge“ „Asyl-Suchende“ und „Vertriebene“ zu erzählen – mit anderen Worten: „eine Geschichte der Menschheit“. „Wirtschaftsmigranten leiden, im Gegensatz zu Flüchtligen, nicht unter Verfolgung“ bekräftigte die Huffington Post.

Die Auswirkungen von Al Jazeera’s Darstellung waren auch in sozialen Netzwerken schnell zu merken. User begannen, sich gegenseitig herauszufordern und zu zenisieren, wie der folgende Screenshot beweist:

Die Wortwahl ‚Flüchtling’ über ‚Migrant’ zu stellen war strategisch bedacht und macht in Anbetracht Al Jazeera’s liberaler Neigung durchhaus Sinn. Deren Absicht lag darin, die verzweifelten Bitten von Menschen zu betonen, die heute versuchen, die Grenzen nach Europa zu überwinden – dabei ihr Leben und das Ihrer Kinder riskieren; ihren Verstand aufs Spiel setzen im Angesicht der erschütternden Umstände von überladenen Booten, übervölkerten Camps und anderen unlebbaren und unausgestatteten Bahnhöfen in Budapest und anderswo. Der Schwerpunkt war die Hervorhebung der Legitimität der flüchtenden syrischen Bevölkerung, da diese ein kriegszerissenes Land zu verlassen sucht, an dessen Zustand der Westen nicht ohne Verantwortung ist. Al Jazeera’s symbolische Darstellung erweist sich als noch sinnvoller in Anbetracht der letzten globalen Welle an der, den europaweiten Sparprogramme folgenden, rechtsextremen Bewegungen und der Finanzkrise von 2008, die die ohnehin fragilen Identitäten und Zugehörigkeiten von Migranten in Ihren Aufnahmeländern nicht nur weiter diskreditierte, sondern selbige Länder auch vor vermeintlich harte Wahlen stellte. In diesem ideologisch genährten Hintergrund erscheinen Flüchtlinge tatsächlich Schutz-verdienender als „wir“, weil leidtragender und verzweifelter. Flüchtlinge können in einer Weise als Opfer dargestellt werden, die für Migranten egal welcher Art nicht zur Verfügung steht.

Die positiven Auswirkungen des Versuchs die Migranten von heute neu darzustellen dürfen nicht unterschätzt werden. Die beispiellose Beweis der Sympatie gegenüber Syriern in Deutschland, Österreich und anderen westlichen Ländern in der vergangenen Woche ist vielleicht zum Teil dieser symbolischen Umstellung zu verdanken. Allerdings stellen wir schon jetzt die Kurzlebigkeit selbiger Empathie fest, nur wenige kurze Tage nachdem die Medien Deutschland’s Großherzigkeit priesen. Österreich und Deutschland haben ihre Grenzen wieder geschlossen und wie es scheint für länger. Ungarn und andere Länder militarisieren und verzäunen unterdessen die ihrigen Grenzen. Zudem zeigt sich seit Monaten in welchem Maße sich auch der Begriff Flüchtling sich für einen Viktor Orban oder Nicolas Sarkozy instrumentalisieren lässt: als ein Mittel um ganze Gruppen zu stigmatisieren, ob Migranten, Moslems oder schlicht Ausländer.

Nach Situation und Strategie: Bedeutungsstruktur und Handlung

Einige wenige Stimmen haben Al Jazeera’s Konsens in der Zwischenzeit in Frage gestellt. Selbige Stimmen versuchen, kritische Aufmerksamkeit gegenüber der repressiven Struktur des Flüchtling-Migranten Gegensatzes zu erwecken. Sie stellen richtigerweise fest, dass diese Struktur mehr Diskriminierung generiert als löst, weil sie Opfer gegen Opfer auszuspielen versucht, zwei Leidtragende um die Anteilnahme der westlichen Welt mit einander konkurrieren lässt und damit letztendlich globale Ungleichheiten und die Grenzen reicher gegenüber armer Länder nicht nur aufrechterhält, sondern sogar fördert. Solche Einsichten sind richtig und wichtig, müssen jedoch um ihrer eigenen Bedeutung willen in historischer und kultureller Perspektive erfolgen.

Die aktuelle Debatte über Flüchtlinge und Migranten leitet sich direkt aus der Begriffsdeutung der Internationalen Gesetzgebung ab. Laut der Vereinten Nationen trifft der Begriff ‚Migrant’ auf all jene zu, die „die Entscheidung zur Migration frei treffen, aus Gründen des ‚persönlichen Nutzens oder Vorteils’ und ohne die Einflussnahme eines externen, ausschlaggebenden Faktors“. Die Zweiteilung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration in dieser Definition ist tatsächlich auffallend: Als juristischer Begriff ist sie sowohl symbolisch wie materiell. Sie unterscheidet ‚wirtschaftliche’  von ‚politischen’ Migranten und es ist ebenfalls entlang dieser ursprünglichen Teilung, dass Migranten im heutigen politischen Diskurs gemessen, hierarchisiert und umstritten werden – der ‚gute’ gegen den ’schlechten’ Migranten, der ‚legale’ versus den ‚illegalen’, der ‚Gastarbeiter’ gegen den ‚Asylsucher’, der ‚Flüchtling’ gegen den ‚Eindringling’, der ‚Flüchtling’ gegen den ‚Terrorist’.

Die Teilung von Migration in wirtschaftliche, (freiwillige) Migration und politische (unfreiwillige) Flucht wurde 1945 in die internationale Gesetzgebung aufgenommen, zu einer Zeit als politische Migration nur das Gegenstück „Arbeitsflüsse“ kannte. Beide wurden vor Ende des Zweiten Weltkriegs as „internationale Migration“ betrachtet und durch die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation beaufsichtigt. Mit der Bildung der Vereinten Nationen (UN) 1945, übernahm diese Organisation die Regulierung jener Migration, die als politisch motiviert aufgefasst wurde. Diese neue Arbeitsteilung unter internationalen Organisationen war Teil der institutionellen Entkoppelung von politischen und ökonomischen Aktivitäten, wie sie Pahuja in ihren Buch „Decolonizing International Law: Developmen, Economic Growth and the Politics of Universality“ beschreibt.  

Aus volkswirtschaftlichen Dynamiken geboren, stellt die Zweiteilung von Migration in Migranten und Flüchtlinge ein sozial-kulturelles Konstrukt, im klassischen Sinne der kontingenten (situationsbedingten) Realität dar. Gleichzeitig ist sie tief verankert in einem vermeintlich objektiven institutionellen Aufbau, dessen Bedeutungsstruktur das Verständnis von Migrationsprozessen in der internationalen Politik nicht nur gestaltet, sondern die Möglichkeit ihrer Auslebung grundlegend konditioniert. Diese Struktur ist dual/zweiteilig und differenziert daher strikt zwischen politischen und wirtschaftlichen Migranten, wobei erstere als Opfer von Gewalt und letztere als freie, ökonomischen Gewinn suchende Kalkulatoren dargestellt werden. Wenn wir also einen Begriff dieser Polarität gegenüber einem anderen bevorzugt gebrauchen, könnten wir zu dem Schluss neigen eine kritische Sichtweise zu vertreten, obwohl wir tatsächlich schlicht mit den Werkzeugen eines kulturell bedingten Ausstattung spielen, die wir historisch und institutionell widerspruchslos geerbt haben. Dieses Erbe ist, Al-Jazeera’s dissendierende Darstellung beweist es, nur scheinbar kritisch. Vielmehr fördert eine solche Darstellung (vielleicht ungewollt) eine Disposition von Dingen, sie weder kontrolliert, noch anzusprechen beginnt.

„Migrant“: Die Sichtweise radikal sozialer Bewegungen und kritischer Wissenschaft

Al Jazeera’s Strategie spielt nicht nur in die Hände eines stigmatisierenden Repertoires von Etiketten, die Menschen aufgedrückt werden, es verstärkt diese und deren Verwendbarkeit für Diskriminierungszwecke auch nachhaltig. Somit annulliert und macht es ungeschehen die jahrelange symbolische Arbeit von politischen Aktivisten/innen und kritischen Akademiker/innen, dessen Anliegen es eigentlich war, den Begriff ‚Migrant’ als Teil einer weitreichenden politischen Strategie einzuführen.

Diese Bemühung, von Grassrootsinitiativen getragen, benutzt den Begriff ‚Migrant’ um darauf hinzuweisen, dass Migranten nicht nach ihren projizierten Motivationen und Gründen differenzier- und diskriminierbar sind. Diese alternative Sichtweise verwischt die Linie zwischen “Wirtschaftsmigranten” und “Flüchtlingen”, “Legalen” und “illegalen” absichtlich, indem Versuch diese Linie aufzuzeigen und zu entnormalisieren. Gesetztes Ziel hierbei ist es, in den Begriff selbst eine Kritik an jenen Institutionen einzumeißeln, die Migranten überhaupt erst unterscheiden, aufteilen und diskriminieren.

Gesetztes Ziel ist es somit auch, dem Begriff Migration wieder seine ursprünglich wirtschaftliche und politische Doppelbedeutung zu verleihen. Nicht nur sind (politische) Flüchtlinge fast immer auch Opfer scheiternder Wirtschaften innerhalb eines global ungerechten Systems, sondern “Wirtschaftsmigration”, als Resultat globaler Marktwirtschaft, ist selbst ein grundlegend politisches Problem und muss als solches erkannt und behandelt werden. In dieser kritischen Version behält der Begriff Migrant daher seine Funktion als Aufzeiger einer Gesellschaftsklasse (in Marx’ Sinne) – eine Bedeutungsdimension die in der individualistisch latenten Fiktion der ‚freiwilligen’ Wirtschaftsmigration ausradiert wird. 

Einige abschließende Worte

Die linguistische und symbolische Unterscheidung zwischen “Flucht” und “Migration” folgte einem institutionellen Spaltung, Resultat einer formellen Trennung politischer und wirtschaftlicher Angelegenheiten im kapitalistischen System der Nachkriegszeit. Geisteswissenschaftliche Theoretiker wie unter anderen Karl Polanyi, Pierre Bourdieu oder Ellen Wood haben vorgeführt, dass solch eine Spaltung situationsbedingt ungewiss ist, und außerdem schweren ideologischen Ballast birgt.  Aus diesem Grund sind Migrationsdiskurse mit Machtkämpfen um Sprachbedeutungen gespickt, deren Wetteinsätze aus materiellen und symbolischen Ressourcen bestehen. Noch so gute Absichten müssen im Zaum gehalten werden um voreilige und häufig falsche Rückschlüsse zu vermeiden – den Glauben, dass einen Migranten heute einen Flüchtling nennen ihm morgen noch helfen wird, zum Beispiel.

Als Akademiker, als öffentliche Intellektuelle, als Wissenschaftler – es ist für uns alle leicht, dem kategorischen Fetischismus anheim zu fallen, der uns blind macht gegenüber der temporalen Dimension unserer diskursiven Strategien. Einige dieser Strategien sind effektiv im Hinblick auf die Gegenwart kompromittieren jedoch die Zukunft. Es ist unsere Aufgabe solchen Fetischismus – ob symbolischen, kategorischen oder andersgearteten – zu überwinden, indem wir jene Menschen und Lebensrealitäten sichtbar machen, die von solchen Kategorien repräsentiert und daher eingeschlossen werden.









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