Sunday, 15 November 2015

[Terminologie_Paris]



Frieden:
zu Hause; das durch Kriege im Ausland angestrebte Ergebnis
eine Illusion; Deckname für Privilegien, für Bevorzugung.
wie Schwarztee im England des 19. Jahrhunderts: eine Rarität, für einige wenige käuflich, nur weil die existenten Ausbeutungsketten in den Kolonien und zu Hause funktionstüchtig sind.

Mensch:
öffentlich betrauerbar.
nicht die Einwohner des „Calais Dschungels“, deren Lager heute (14.11.) abbrannte.
nicht die 63 Personen, die gestern in 3 Bombenanschlägen im Irak getötet wurden (13.11.).
nicht die 43 Personen, die vorgestern in einem Doppel IS Terroranschlag im „Paris des Osten“ [Beirut] getötet wurden (12.11.).
nicht die 717 Zivilisten die im Oktober im Irak getötet wurden.
nicht die 166,291 Zivilisten die seit 2003 im Irak von bewaffneter Gewalt getötet worden sind (3).
Nicht die 1.5MILLIONEN Iraker, die als direktes Resultat der Sanktionen vor 2003 starben (2).
Nicht
„als sicher markiert“:
eine zeitlich begrenzte Definition von Gewalt und Angst haben.
den Luxus haben, zu wissen, wann Morden, Bombardierungen, Schießen und Gewalt aufhören.

Angst, Krieg:
Frag Frauen die nachts alleine laufen nach Angst und dem Krieg gegen ihre Körper.
Frag schwarze Menschen in den USA, die zum Einkaufen gehen nach Angst und Krieg.
Frag die Palestinänsier, die zu Hause schlafen nach Angst und Krieg.
Frag jeden einzelnen farbigen Moslem der heute in Westeuropa wohnt nach Angst und Krieg.
Die Anzahl jener, die getötet wurden, nicht kennen, da niemand mitzählt. Niemanden haben, der mitzählt.

Naiveté:
Hunderttausende von Menschen weltweit angreifen, verletzen und erwarten, dafür keinen Preis zu zahlen; oder, eine „zivilisierte, abgewogene Reaktion“ erwarten.

Zivilisiert, „zivilisierte, abgewogene Reaktion“:
Vor der Nase von Flüchtlingen die Grenzen schließen weil deren Mörder auch eure Mörder sind.  

Terroranschlag:
Vorfall der benutzt wird um weitere Gewalt zu rechtfertigen, weitere Grenzen gegen die Schwachen zu errichten.
Ausrede auf die ihr alle gewartet habt.
Bonjour President Le Pen.
Nicht Drohnenangriffe: nicht die 421 Drohnenangriffe in Pakistan, nicht die 107 in Yemen, nicht die 15 in Somalia, nicht die 162 in Afghanistan. Die Gesamtsumme der Todesopfer in diesen „nicht Terrorangriffen“ ist nicht genau genug (1).

Flüchtlinge:
IS

IS:
Flüchtlinge.

Mitgefühl:
Selektive Emotion.

Libanon:
Die sind daran gewöhnt.

Syrien:
Wir werden dafür sorgen, dass die sich daran gewöhnen.

Irak:
Wir haben versucht, die daran zu gewöhnen.

Jemen:
Wer?

(1) https://www.thebureauinvestigates.com/…/dron…/drones-graphs/
(2) Abdel Bari Atwan, Islamic State: The Digital Caliphate, p. 33
(3) https://www.iraqbodycount.org/database/





Friday, 30 October 2015

Von Wut, Verzweiflung und Hoffnung: "Urlaub" in Palästina



Ein Dorf hat hier mal gestanden, erzählt der einäugige Beduine, ein Dorf das reich war und schön und einen Basar hatte der es aufnehmen konnte mit dem von Damaskus. Oft ist er mit seinen Herden hier vorbeigekommen, im Hochsommer, um die Tieren zu tränken und seiner Frau ein neues Gewand zu kaufen. Damals, als es sie Quelle noch gab; als da wo heute nur die Stümpfe einiger längst vertrockneter Palmen stehen, noch Gemüse angebaut wurde, und Mais. Das Wasser das einst diese Quelle speiste, und in den sumpfigen Tälern des Jordan sogar Reisanbau ermöglichte, die einzige Quelle übrigens zwischen Jericho und dem Jordan, staut sich heute vor den hydaulischen Dämmen der 70iger Jahre. Staut sich und produziert Elektrizität für die zahlreichen israelischen Siedlungen, die es gibt, hier im Westjordanland, wird dann um- und abgeleitet in die Weinberge und riesigen Avocado Plantagen die das Tal säumen, deren Früchte wir Europäer so gern und unverwunden im Winter genießen.

Lektüre: „Making the Desert Bloom – Or: How Israel Drained the Jordan and then Blamed the Arabs.“
Soundtrack: Torabyeh - Ghorbah ft. Husam Abed

Pause.

Wir suchen Baby Jesus in Bethlehem. Ein orthodoxer Priester guckt uns ungehalten nach, den Zeigefinger mahnend in die Höhe gestreckt, als wir, albern kichernd, in einem Abflussrohr nach Jesus rufen. Würden wir ihn finden hätten wir immerhin endlich eine passende Antwort für die Zeugen Jehowas: „Guten Tag, kennen Sie Jesus Christus?“ „Ich habe nach ihn gesucht, wirklich. Sogar in der Taufschale seiner Kirche habe ich gesucht. Nur gefunden habe ich ihn nicht -  er muss sich verstecken.“
Falls es eine Hölle gibt, kommen wir da hin.. naja, wenigstens wird’s lustig.

Pause.

Sammeltaxi auf dem Weg nach Ramallah. Wie immer läuft das Radio bei voller Lautstärke und niemanden stört’s. Die Leute reden durcheinander, lachen, einige singen halblaut mit. Im tiefen gutturalen Ton der Sprache kündigt der Moderator die Morgennachrichten an. Und plötzlich ist es ganz still. In der Nähe von Nablus haben ultraorthodoxe Siedler im Haus einer palästinensischen Familie Feuer gelegt. Dabei ist ein 16 Monate alter Junge verbrannt. Seine Eltern sind mit Verbrennungen dritten Grades im Krankenhaus, ihre Prognose: schlecht. Ein kollektives Atemholen geht durch den Bus. Das Radio wird ausgestellt. Es ist Freitag Morgen, jeder weis, dass es am Nachmittag Ausschreitungen geben wird, geben muss, dass demonstriert werden muss – schon allein der Solidarität wegen.
Eine Stunde später gibt Bibi (besser bekannt als Arschloch-Netanjahu) zu verlauten, dass „solche Gewalttaten unnötig“ seien. Eine Woche später werden die Siedler zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt. Zwei Wochen später erliegen beide Elternteile ihren Verbrennungen.

Pause.

Was ist eigentlich Gerechtigkeit?

Pause.

Ramallah, die de-fakto Hauptstadt: Neoliberaler Traum aus Beton und Stahl. Wir sitzen an einem aus einer Quelle gespeisten Pool in der Innenstadt und trinken Margaritas zu 10€ das Stück. Im Hintergrund ist die Fassade eines riesigen Einkaufszentrum zu sehen an dem Markennamen wie Gucci und Prada in die Nacht leuchten.  Um uns herum tanzen Frauen, Männer und Kinder aller Altersstufen in Bikinis zu Eminem, singen lauthals mit oder küssen und fallen betrunken in den Pool. Ab und an kommt ein Mann von der Security und bittet darum, die Gläser vom Poolrand fernzuhalten.

Lektüre: A Guide to Ethical Consumption in Palestine.
Soundtrack: The Cranberries – Zombie (https://www.youtube.com/watch?v=6Ejga4kJUts)

Pause.

Von drei Seiten schallt uns auf dem Dorfplatz Musik entgegen. Es ist Samstag Nachmittag und von jeder der auf den Platz führenden Straßen kommt uns ein Zug Menschen mit Musik entgegen. Erst über eine Stunde später begreife ich, dass die drei Feste nichts mit einander zu tun hatten: von Osten der Begräbnismarsch des gestern erschossenen Jungen, von Nord-westen die Henna-Feier einer heute Nacht Heiratenden, von Süden der Festzug zur Taufe eines Neugeborenen. Nichts in mir kann diese bizarre Kombination von Festlichkeiten und die Normalität mit der sie als solche akzeptiert wird auch nur annähernd fassen – bis heute nicht.

Soundtrack: God of Revolution - إله الثورة - Tamer Nafar, Marwan Makhoul, Terez Sliman (https://www.youtube.com/watch?v=5zGnGeiMun8)

Pause.

Qalandia Checkpoint – der Hauptübergang von Israel in das Westjordanland. Ich stehe in der Schlange für Ausländer die nur ungefähr ein zehntel so lang ist wie die für Palästinenser und beobachte einen jungen Soldaten dabei, wie er eine am Stock gehende verschleierte Frau durchsucht: er fasst ihr zwischen die Beine, ins Haar, unter den Busen, und in den Mund, während sie zu Boden 
blickt, einsilbig leise auf seine gebrüllten Fragen antwortend. 

Pause.

Was ist eigentlich die Würde des Menschen?

Pause.

Jordantal. Noch fließt der Strom, der diesem Land eins seinen Namen gab. Noch fließt der Jordan, langsam und bedächtig, das Land in zwei teilend, teilend in Jordanien, die Ostbank, an der Frieden herrscht oder herrschen darf und die Westbank, das Westjordanland: besetzt, zerstückelt, eingezäunt, umkämpft. Die Palästinenser könnten doch einfach über den Fluss gehen, zu den Jordaniern, hieß es 1967. Sie würden sich schon arrangieren hieß es, seien doch eh alles nur Araber.
Wusstest du, dass die drittgrößte jordanische Stadt mit 600000 Einwohnern das T’sche Refugee Camp ist?

Lektüre: „Before their Nak’Ba: Arts and Culture around the Jordan Delta before 1948“

Pause.

Freitag Nachmittag, Birzeit. Wir sitzen vor dem Haus, trinken Kaffee und spielen Karten, als, von sehr nahe, ein Schuss zu hören ist. „MP“ stellt unser Gastgeber ungerührt fest – wie jeder hier kann er Waffen problemlos an den Geräuschen ihrer Schüsse erkennen. Keine 10 Sekunden später klingelt das Telefon. Weitere 5 Minuten später stehen wir auf einem den nächstgelegenen Checkpoint überblickenden Hügel. Unter uns, keine 200m entfernt, werfen Jungen von nicht mehr als 14 Jahren Steine auf Maschinenpistolen haltende israelische Soldaten, lachen, rennen weg, werfen wieder. Von den Soldaten rührt sich niemand. Einer der Jungen zieht einen Palästinensierschal aus der Tasche und bindet ihn sich vor’s Gesicht. Auf einmal bricht unter den Soldaten Stress aus: sie gestikulieren mit ihren Waffen, brüllen etwas, mehr Schüsse fallen. Der Junge stolpert rückwärts, fällt, und steht nicht wieder auf. Seine Freunde versuchen, ihn wegzuziehen. Mit unglaublicher Geschwindigkeit kommt ein Militärjeep angerast. 6 Soldaten springen heraus, treten und schieben die Kinder weg. Sie zerren den Verletzten ins Innere – sein Körper hinterlässt eine dunkelrote Spur auf dem Asphalt.

Wusstest du, dass Vermummung im israelischen Militärgesetz als bewaffneter Angriff gilt, auf den mit scharfer Munition regiert werden darf?

Soundtrack: Ringing Silence.

Pause.

Kurz vor Sonnenaufgang. Niemand schläft. Die Stimme de Muezzin schickt ihren rauen Ruf zum Morgengebet in die Nacht, übertönt jedoch tausendfach von den Motorengeräuschen in das Dorf rollender Panzer. Die Armee ist hier. Das kann nur einen Grund haben. Wir sitzen bei heruntergelassenen Jalousien und gelöschtem Licht, dich aneinander gedrängt auf dem steinernen Boden, wagen nicht zu reden, zu schlafen, kaum zu atmen,  und warten das Donnern an der Tür: Metallstäbe die gegen Holz krachen. Dass es heute Nacht nur weit entfernt zu hören, freut niemand – wieder hat eine Familie einen Sohn eingebüßt. Es könnte genauso gut uns treffen.

Lektüre: Gedankenfetzen, gelb – sollen wohl Erinnerungen darstellen.
Soundtrack: Yazan Shrouf – „1100 ma7al fadi“ (
https://www.youtube.com/watch?v=2cJkyTlMx74)

Pause.

Jericho, 10.30 morgens, 52°C. Bei diesen Temperaturen mit Tagen in kulturell passender Kleidung - also von Hand bis Fussgelenken bedeckt – den Berg der Versuchung zu erklettern ist fast so lustig, wie auf einer afghanischen Trauerfeier unzufällig die eigene Kotzgrenze zu überschreiten.
Wasserverbrauch: 2l/Aufstieg.

Pause.

Sonnenaufgang. Der tiefe Duft unbekannter, aber blühender Bäume und Pflanzen, der angenehm kühle Dunst des nahen Meeres. Ich krieche aus dem Zelt und lassen den Blick gleiten: über weite Hügel und grüne Täler, durchsetzt mit Oliven- und Zitronenbäumen, über Jurten wie unsere, umgeben von Erbsen und Bohnenfeldern, die jetzt im Hochsommer bereits abgeerntet sind, bleibe hängen an dem Beduinen weit in der Ferne, der eine Ziegenherde vor sich hertreibt, seinen Esel führend. Auf dem Plateau direkt unter mir säugt eine Hirtenhündin ihre drei Welpen und um mich herum erwachen die Bienen und Tiere, beginnen die Hähne zu krähen.
Und für einen Moment, einen ganz kurzen nur, glaube ich wirklich zu verstehen, warum es sich lohnt, für Heimat zu kämpfen. Warum Gewalt, Schikane, Mord und Internierung akzeptable Preise sein können: Weil der Traum einer Heimat mehr Hoffnung und Wahrheit verspricht, als die Besetzung je stehlen könnte. Und weil, wenn es sich dafür nicht zu kämpfen lohnt, auch sonst nichts den Kampf wert ist. 


Soundtrack: https://www.youtube.com/watch?v=vir5B-v4DeI


Tuesday, 29 September 2015

Von Flüchtlingen und Migranten: Stigma, Politik und Grenzarbreit an den Rändern Europas



Von Raia Apostolova (Central European University)
Aus dem Englischen von Carmen


Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass im öffentlichen Diskurs der letzten zwei Wochen “Flüchtling” ein sicherer und einvernehmlicher Ersatz für das diskreditierte Konzept “Migrant” geworden ist. Wie Bono, Stimme des mainstream-westlichen guten Gewissens es beschrieb: “Wir sollten das Wort Migrant nicht benutzen. Migrant ist ein politischer Begriff, der benutzt wird um diesen Leuten ihren wahren Status zu entziehen. Sie sind Flüchtlinge.”

In diesem Artikel reflektiere ich darüber, wie wir in so kurzer Zeit hier angekommen sind, und bieten einige rückblickende Hintergründe bezüglich der institutionellen und kulturhistorischen Geschichte der Flüchtlings-Migranten Debatte. Auf dem Spiel steht hier eine effektivere kritisch-kulturelle Analyse des Vokabulars, das uns zur Verfügung steht um über soziale Probleme und Phenomäne zu diskutieren.

Die Wortwahl der Medien verstehen: eine situationsbedingte Analyse

Am 20. August veröffentlichte Al-Jazeera einen Leitartikel mit dem Namen “Warum Al Jazeera den Begriff Mediterrane ‘Migranten’ nicht gebraucht”. Der Autor, Barry Maloner, erklärte, dass ‚Migrant’ ein dekorativer Sammelbegriff sei, der die Schrecken der syrischen Erfahrung sowie Europas humanitäre Verantwortung verschleiere. Durch den Gebrauch des Begriffes ‚Migrant’ “geben wir solchen (Regierungen) mehr Gewicht, die nur Wirtschaftsmigration sehen wollen”. Al Jazeera’s Darstellung von Migrantensubjekten als Opfer ist ein Versuch der symbolischen Verlagerung durch den der Sender bei Lesern und Edioren mehr Mitgefühl zu wecken sucht.

Diese Darstellung war zweifelsohne ein Erfolg. Al Jazeera’s Glaubensbekundung erklang wie ein Gebetsruf, ein Gebetsruf  dessen Wiederhall schnell in vielen der internationalen Pressekanäle (zum Beispiel im Guardian, oder der Washington Post) zu hören war.  Der Guardian hinterfragte die Legitimität von Berichten über Wirtschaftsmigranten und schlug stattdessen vor, eine Geschichte über „Flüchtlinge“ „Asyl-Suchende“ und „Vertriebene“ zu erzählen – mit anderen Worten: „eine Geschichte der Menschheit“. „Wirtschaftsmigranten leiden, im Gegensatz zu Flüchtligen, nicht unter Verfolgung“ bekräftigte die Huffington Post.

Die Auswirkungen von Al Jazeera’s Darstellung waren auch in sozialen Netzwerken schnell zu merken. User begannen, sich gegenseitig herauszufordern und zu zenisieren, wie der folgende Screenshot beweist:

Die Wortwahl ‚Flüchtling’ über ‚Migrant’ zu stellen war strategisch bedacht und macht in Anbetracht Al Jazeera’s liberaler Neigung durchhaus Sinn. Deren Absicht lag darin, die verzweifelten Bitten von Menschen zu betonen, die heute versuchen, die Grenzen nach Europa zu überwinden – dabei ihr Leben und das Ihrer Kinder riskieren; ihren Verstand aufs Spiel setzen im Angesicht der erschütternden Umstände von überladenen Booten, übervölkerten Camps und anderen unlebbaren und unausgestatteten Bahnhöfen in Budapest und anderswo. Der Schwerpunkt war die Hervorhebung der Legitimität der flüchtenden syrischen Bevölkerung, da diese ein kriegszerissenes Land zu verlassen sucht, an dessen Zustand der Westen nicht ohne Verantwortung ist. Al Jazeera’s symbolische Darstellung erweist sich als noch sinnvoller in Anbetracht der letzten globalen Welle an der, den europaweiten Sparprogramme folgenden, rechtsextremen Bewegungen und der Finanzkrise von 2008, die die ohnehin fragilen Identitäten und Zugehörigkeiten von Migranten in Ihren Aufnahmeländern nicht nur weiter diskreditierte, sondern selbige Länder auch vor vermeintlich harte Wahlen stellte. In diesem ideologisch genährten Hintergrund erscheinen Flüchtlinge tatsächlich Schutz-verdienender als „wir“, weil leidtragender und verzweifelter. Flüchtlinge können in einer Weise als Opfer dargestellt werden, die für Migranten egal welcher Art nicht zur Verfügung steht.

Die positiven Auswirkungen des Versuchs die Migranten von heute neu darzustellen dürfen nicht unterschätzt werden. Die beispiellose Beweis der Sympatie gegenüber Syriern in Deutschland, Österreich und anderen westlichen Ländern in der vergangenen Woche ist vielleicht zum Teil dieser symbolischen Umstellung zu verdanken. Allerdings stellen wir schon jetzt die Kurzlebigkeit selbiger Empathie fest, nur wenige kurze Tage nachdem die Medien Deutschland’s Großherzigkeit priesen. Österreich und Deutschland haben ihre Grenzen wieder geschlossen und wie es scheint für länger. Ungarn und andere Länder militarisieren und verzäunen unterdessen die ihrigen Grenzen. Zudem zeigt sich seit Monaten in welchem Maße sich auch der Begriff Flüchtling sich für einen Viktor Orban oder Nicolas Sarkozy instrumentalisieren lässt: als ein Mittel um ganze Gruppen zu stigmatisieren, ob Migranten, Moslems oder schlicht Ausländer.

Nach Situation und Strategie: Bedeutungsstruktur und Handlung

Einige wenige Stimmen haben Al Jazeera’s Konsens in der Zwischenzeit in Frage gestellt. Selbige Stimmen versuchen, kritische Aufmerksamkeit gegenüber der repressiven Struktur des Flüchtling-Migranten Gegensatzes zu erwecken. Sie stellen richtigerweise fest, dass diese Struktur mehr Diskriminierung generiert als löst, weil sie Opfer gegen Opfer auszuspielen versucht, zwei Leidtragende um die Anteilnahme der westlichen Welt mit einander konkurrieren lässt und damit letztendlich globale Ungleichheiten und die Grenzen reicher gegenüber armer Länder nicht nur aufrechterhält, sondern sogar fördert. Solche Einsichten sind richtig und wichtig, müssen jedoch um ihrer eigenen Bedeutung willen in historischer und kultureller Perspektive erfolgen.

Die aktuelle Debatte über Flüchtlinge und Migranten leitet sich direkt aus der Begriffsdeutung der Internationalen Gesetzgebung ab. Laut der Vereinten Nationen trifft der Begriff ‚Migrant’ auf all jene zu, die „die Entscheidung zur Migration frei treffen, aus Gründen des ‚persönlichen Nutzens oder Vorteils’ und ohne die Einflussnahme eines externen, ausschlaggebenden Faktors“. Die Zweiteilung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Migration in dieser Definition ist tatsächlich auffallend: Als juristischer Begriff ist sie sowohl symbolisch wie materiell. Sie unterscheidet ‚wirtschaftliche’  von ‚politischen’ Migranten und es ist ebenfalls entlang dieser ursprünglichen Teilung, dass Migranten im heutigen politischen Diskurs gemessen, hierarchisiert und umstritten werden – der ‚gute’ gegen den ’schlechten’ Migranten, der ‚legale’ versus den ‚illegalen’, der ‚Gastarbeiter’ gegen den ‚Asylsucher’, der ‚Flüchtling’ gegen den ‚Eindringling’, der ‚Flüchtling’ gegen den ‚Terrorist’.

Die Teilung von Migration in wirtschaftliche, (freiwillige) Migration und politische (unfreiwillige) Flucht wurde 1945 in die internationale Gesetzgebung aufgenommen, zu einer Zeit als politische Migration nur das Gegenstück „Arbeitsflüsse“ kannte. Beide wurden vor Ende des Zweiten Weltkriegs as „internationale Migration“ betrachtet und durch die ILO, die Internationale Arbeitsorganisation beaufsichtigt. Mit der Bildung der Vereinten Nationen (UN) 1945, übernahm diese Organisation die Regulierung jener Migration, die als politisch motiviert aufgefasst wurde. Diese neue Arbeitsteilung unter internationalen Organisationen war Teil der institutionellen Entkoppelung von politischen und ökonomischen Aktivitäten, wie sie Pahuja in ihren Buch „Decolonizing International Law: Developmen, Economic Growth and the Politics of Universality“ beschreibt.  

Aus volkswirtschaftlichen Dynamiken geboren, stellt die Zweiteilung von Migration in Migranten und Flüchtlinge ein sozial-kulturelles Konstrukt, im klassischen Sinne der kontingenten (situationsbedingten) Realität dar. Gleichzeitig ist sie tief verankert in einem vermeintlich objektiven institutionellen Aufbau, dessen Bedeutungsstruktur das Verständnis von Migrationsprozessen in der internationalen Politik nicht nur gestaltet, sondern die Möglichkeit ihrer Auslebung grundlegend konditioniert. Diese Struktur ist dual/zweiteilig und differenziert daher strikt zwischen politischen und wirtschaftlichen Migranten, wobei erstere als Opfer von Gewalt und letztere als freie, ökonomischen Gewinn suchende Kalkulatoren dargestellt werden. Wenn wir also einen Begriff dieser Polarität gegenüber einem anderen bevorzugt gebrauchen, könnten wir zu dem Schluss neigen eine kritische Sichtweise zu vertreten, obwohl wir tatsächlich schlicht mit den Werkzeugen eines kulturell bedingten Ausstattung spielen, die wir historisch und institutionell widerspruchslos geerbt haben. Dieses Erbe ist, Al-Jazeera’s dissendierende Darstellung beweist es, nur scheinbar kritisch. Vielmehr fördert eine solche Darstellung (vielleicht ungewollt) eine Disposition von Dingen, sie weder kontrolliert, noch anzusprechen beginnt.

„Migrant“: Die Sichtweise radikal sozialer Bewegungen und kritischer Wissenschaft

Al Jazeera’s Strategie spielt nicht nur in die Hände eines stigmatisierenden Repertoires von Etiketten, die Menschen aufgedrückt werden, es verstärkt diese und deren Verwendbarkeit für Diskriminierungszwecke auch nachhaltig. Somit annulliert und macht es ungeschehen die jahrelange symbolische Arbeit von politischen Aktivisten/innen und kritischen Akademiker/innen, dessen Anliegen es eigentlich war, den Begriff ‚Migrant’ als Teil einer weitreichenden politischen Strategie einzuführen.

Diese Bemühung, von Grassrootsinitiativen getragen, benutzt den Begriff ‚Migrant’ um darauf hinzuweisen, dass Migranten nicht nach ihren projizierten Motivationen und Gründen differenzier- und diskriminierbar sind. Diese alternative Sichtweise verwischt die Linie zwischen “Wirtschaftsmigranten” und “Flüchtlingen”, “Legalen” und “illegalen” absichtlich, indem Versuch diese Linie aufzuzeigen und zu entnormalisieren. Gesetztes Ziel hierbei ist es, in den Begriff selbst eine Kritik an jenen Institutionen einzumeißeln, die Migranten überhaupt erst unterscheiden, aufteilen und diskriminieren.

Gesetztes Ziel ist es somit auch, dem Begriff Migration wieder seine ursprünglich wirtschaftliche und politische Doppelbedeutung zu verleihen. Nicht nur sind (politische) Flüchtlinge fast immer auch Opfer scheiternder Wirtschaften innerhalb eines global ungerechten Systems, sondern “Wirtschaftsmigration”, als Resultat globaler Marktwirtschaft, ist selbst ein grundlegend politisches Problem und muss als solches erkannt und behandelt werden. In dieser kritischen Version behält der Begriff Migrant daher seine Funktion als Aufzeiger einer Gesellschaftsklasse (in Marx’ Sinne) – eine Bedeutungsdimension die in der individualistisch latenten Fiktion der ‚freiwilligen’ Wirtschaftsmigration ausradiert wird. 

Einige abschließende Worte

Die linguistische und symbolische Unterscheidung zwischen “Flucht” und “Migration” folgte einem institutionellen Spaltung, Resultat einer formellen Trennung politischer und wirtschaftlicher Angelegenheiten im kapitalistischen System der Nachkriegszeit. Geisteswissenschaftliche Theoretiker wie unter anderen Karl Polanyi, Pierre Bourdieu oder Ellen Wood haben vorgeführt, dass solch eine Spaltung situationsbedingt ungewiss ist, und außerdem schweren ideologischen Ballast birgt.  Aus diesem Grund sind Migrationsdiskurse mit Machtkämpfen um Sprachbedeutungen gespickt, deren Wetteinsätze aus materiellen und symbolischen Ressourcen bestehen. Noch so gute Absichten müssen im Zaum gehalten werden um voreilige und häufig falsche Rückschlüsse zu vermeiden – den Glauben, dass einen Migranten heute einen Flüchtling nennen ihm morgen noch helfen wird, zum Beispiel.

Als Akademiker, als öffentliche Intellektuelle, als Wissenschaftler – es ist für uns alle leicht, dem kategorischen Fetischismus anheim zu fallen, der uns blind macht gegenüber der temporalen Dimension unserer diskursiven Strategien. Einige dieser Strategien sind effektiv im Hinblick auf die Gegenwart kompromittieren jedoch die Zukunft. Es ist unsere Aufgabe solchen Fetischismus – ob symbolischen, kategorischen oder andersgearteten – zu überwinden, indem wir jene Menschen und Lebensrealitäten sichtbar machen, die von solchen Kategorien repräsentiert und daher eingeschlossen werden.









Tuesday, 21 April 2015

Europa. Oder: Massengrab zum Mittelmeer

Ihr Menschen da draußen die ihr euch aufrecht echauffiert über die letzte Flüchtlingskatastrophe. Ihr und eure bequem selbst gerechte “wenn wir das nur früher gewusst hätten” Manie. Ihr kotzt mich an. Menschen sterben an Europas Aussengrenzen seit Jahrzehnten. Ja, es werden jedes Jahr mehr. Und ja das wirft die Frage nach Gründen auf, und zwar ebenfalls schon seit Jahrzehnten.
“Das Wegsehen in der EU muss aufhören”. Aha. Wer sieht denn weg? Frontex, das Privatunternehmen dem die EU in unserem Namen den Schutz unserer Grenzen aufgetragen hat, jedenfalls nicht. Sie registrieren jeden gesetzwidrigen Grenzübertritt: mit Booten, mit Drohen, mit Kameras, mit Satelliten und Überwachung. “Man” weis bescheid in der EU. Frontex gibt monatliche Berichte ab in Brüssel und man kann es schön nachverfolgen auf deren Website. Über alle die es schaffen und die, die es nicht schaffen: Die verhungern in den “Auffanglagern” in Malilla und Lampedusa, die erfrieren in den Bergen zwischen Ungarn und der Ukraine, die ersaufen im Massengrab zum Mittelmeer.
Da sieht niemand weg, sondern zu. Und auch du kannst es wissen. Du hättest nur wollen müssen. Du wolltest es nicht wissen obwohl du hättest können. Wolltest es nicht wissen weil Wissen, wenn nicht Verantwortung dann zumindest Unannehmlichkeiten mit sich bringt. Weil das was in deinem und meinem Namen jeden Tag geschieht auch mit dir etwas macht. Weil du dich vielleicht beim nächsten Spanienurlaub hättest ekeln könntest im Mittelmeer zu baden. Weil du Stellung beziehen müssen könntest.
Weil Bewusstsein über Ungerechtigkeit nur durch die Offenbarung unangenehmer Tatsachen zu Veränderung führen kann. Zum Beispiel dass Frontex als Privatunternehmen jährlich Millionengewinne einstreicht mit seinem „Schutz“ der EU Grenzen. Dass zu den EU Direktiven gehört, dass Frontex keine Seenotrettung betreibt, sondern Schiffe – auch solche die lecken, Schlagseite haben oder überladen sind - zum Umdrehen zwingt, in letzter Instanz mit Warnschüssen. Dass ein 10 Punkte Plan der Abschreckung und die Verfolgung von Schleppern (7 Punkte) über das Retten von Menschen (2 Punkte) stellt eben doch nur ein selbstgefälliges Medienspektakel ist. Oder dass eine Seenotrettung, so dringend benötigt, Investitionen in Millionenhöhe erfordert, deren Bereitstellung die EU Mitgliedstaaten – in seltener Einigkeit – verweigern.
Du hättest es wissen können. Und du kannst es jetzt wissen. Seit Jahren stellen Netzwerke und Infopoints Zahlen, Fakten, Reportagen und Lebensgeschichten ins Netz zum Lesen, Erfahren, Empathie leben. Also erzähl mir nicht du hättest nichts davon gewusst, verdammt. Das haben wir Deutsche schonmal gesagt, du erinnerst dich. Und jetzt denk mal an deine Geschichtsstunden zurück und überleg dir was “wir haben es nicht gewusst” damals gemacht hat. Was es heute tut; im größten europäischen Massenmord seit Bosnien. Und hör auf mit deiner verdammten Selbstgerechtigkeit.
___________
Ressourcen für den, der Wissen will: 

www.proasyl.de
http://sea-watch.org/faq/ (mit super Newsletter)
www.akweb.de
www.wir-treten-ein.de
https://www.facebook.com/nobordersnetwork
http://frontex.europa.eu/
http://de.wikipedia.org/wiki/Kein_mensch_ist_illegal

Wednesday, 19 February 2014

Farming the Magical Valley







Lieblingsschlafplatz 1 / favorite sleeping place 1



Kompostbau

building the compost palace
I (Heart) Morning Glory

in den Bohnen




Sok River
always connected


Küchenkobra 1
Küchenkobra 2
Küchenkobra 3

Ums Haus
Lieblingsschlafplatz 2

Monday, 30 December 2013

Pictures II

Pantai Baron



 Seaweed Collection / Seegras Sammeln


Lunch!


Wediombo

on the Road

Hello Mister!

around the house / Zuhause



"artist at work"




studio with leaky roof / Kunststudio mit undichtem Dach..


All photos copyleft by Povi.

Gazes Beyond


Spotlight: Mitternacht, Jalan Parangtritis, die Hauptstraße die in mein Dorf führt. Aus Nachlässigkeit und leichtem Alkoholholkonsum geht mir das Benzin aus. Nachts, dunkel gekleidet, ohne Licht oder Handy auf einer Hauptverkehrstraße stehend – ich kann mir sicherere Szenarien vorstellen. Aber gut: Nach Hause sind es 2km, es ist wenig Verkehr und das Motorrad wird schon keiner klauen – in der Stadt schließt schließlich auch niemand die Roller ab. Keine 200m weiter hält eine beräderte, gelb-reflektierende Weste vor mir – der Polizist steigt ab, fragt höflich ob ich mich verlaufen habe und bietet mir nach Erklärung der Situation eine Fahrt zur nächsten Tankstelle an. Keiner von uns trägt den gesetzlich vorgeschriebenen Helm, und das Licht an seinem Motorrad funktioniert ebenfalls nicht. Mein Freund und Helfer: hätte er mich seinerseits beim ohne-Helm-Fahren erwischt, hätte mich das 50ribu Bestechungsgeld oder einen unangenehmen Besuch auf dem Revier gekostet; von meinem nicht existenten Führerschein ganz zu schweigen.

Story: Aus gegeben Anlass möchte ich mich heute mal über die etwas unschöneren Seiten des Lebens in Indonesien auslassen – oder vielleicht über die, die für kurzfristige Besucher weder sichtbar, noch unbedingt relevant sind. Bei längerem hier Leben fallen unbedingt 3 Dinge ins Auge: wie Kleinkriminalität scheinende Banden- fast schon Mafiavorgänge die sich locker bis hoch in die Ministerämter erstrecken, und von Korruption und Schutzgeldern gefüttert werden; religiöser Fundamentalismus bzw. die Diskriminierung von Nicht Moslems, sowie eine etwas allgemeinere Frage nach dem was etwas unsauber gerne “Sichterheit” genannt wird.  Logischerweise füttern diese drei in- und voneinander.
Das mal vorne weg: Indonesien ist sicher. Für weiße Touristen. Anders als in vielen Orten, die bereist habe, fühle ich mich in Jogja wirklich sicher. Wenn ich nachts alleine nach Hause laufe habe ich selten bis nie das Gefühl, mich umgucken zu müssen. Bis jetzt wurde ich nachts wie tagsüber kein einziges Mal blöd angemacht, belästigt oder bestohlen. Das alles war zum Beispiel nachts in Budapest an der Tagesordnung (besonders, wenn man in einer von Neonazis dominierten Gegend wohnt, und Dreadlocks hat). Wiedermal allerdings trügt der Schein. Es fordert genaueres Hinsehen und Aufpassen um bestimmte Dinge zu bemerken.
Nach längerem Aufenthalt in Gegenden Jogjas und Indonesiens, die nicht auf Touristen gepolt sind, beginnen einem gewissen Dinge komisch vorzukommen, fallen bestimme Verhaltenmuster aus der Reihe. In meinem Stammwarung direkt neben der Uni gelegen: der Besitzer Santos, ein grundweg gutgelaunter Mittdreißiger, gerne auf Tischen tanzend zu sehen, versteckt sich auf einmal hinter seinem riesigen Kassiertisch, als zwei stämmige Männer mit langen, in Zöpfen zusammengefassten, öligen Haaren hereinlaufen. Eine geflüsterte Unterhaltung; Gesten, die alles andere als freundlich scheinen. Einer der beiden schaut sich in regelmäßigen Abständen warnend im Warung um: mal gucken, ob einer guckt. Ein Umschlag wird überreicht, einer der beiden klopft (schlägt) Santos noch auf die Schulter und dann sitzen die beiden schon wieder in Ihrem BMW und brausen davon. Übrigens der erste BMW den ich hier sehe.
Auf dem Weg zum Strand: hinter der das Delta überspannenden Brücke versperrt eine rote Schranke die Straße. Letzte Woche war die zwar da, aber offen. Jetzt stehen da Männer in sehr militärisch anmutenden Uniformen (aber ohne sichtbare Waffen), winken einige Fahrzeuge hindurch, halten andere an. Als Weiße werden wir natürlich angestoppt. 20ribu (20000IDR) möchte der Herr von uns haben. Weggeld. Weg-zudiskutieren gibt es da nichts, weil dieser Mann der größten von den zahlenreichen paramilitärischen Vereinigungen des Landes angehört, die unter anderem  in großem Maße den Militärcoup von 1965 getragen haben. Diese spezielle Vereinigung – Pemuda Pancasila - stellt im übrigen den Regierungschef, sowie zwei Drittel aller Minister. Mit diesem Wissen bestückt handeln wir den Herrn auf die Hälfte der Summe herunter, bezahlen und fahren weiter. Einschüchternd, bedrohlich, oder doch nur etwas lästig? 
In einer der wenigen Lokale Jogjas in denen Alkohol ausgeschenkt wird und die nicht der Kategorie „für Touristen gemacht“ angehören: Schon beim reinkommen informiert uns die Bedienung, der Alkohol sei für die nächsten Wochen habis (leer). So erfahre ich, wo der nicht importierte Alkohol in Indonesien überhaupt her kommt, denn als muslimische Provinz, ist die Brennerei auf Java verboten. Natürlich gibt es Schwarzbrenner, die das herstellen, was im englischen als Moonshine bezeichnet wird. Aber die wirklichen Mengen, die später in Läden wie diesem zum Verkauf stehen, werden durch spezielle Lizenzvergebung hergestellt. Einige Dörfer sind als hinduistisch anerkannt, was die Alkoholherstellung religiös legitim macht und ihnen daher staatlich vergebene Lizenzen einbringt. In Solo, ca. 40km von Jogja entfernt gibt es eine solche community. Daher bekommt dieses Lokal seinen Alkohol. Nun ist der Grund für das momentane Fehlen von Alkohol jedoch nicht wie vielleicht anzunehmen, in Rivalitäten über die Lizenzvergabe zu suchen (die es natürlich gibt – Profitgier macht auch vor Moslems keinen Halt). Stattdessen gibt es für die nächsten Wochen keinen Alkohol, weil eine islamisch-fundamentalistische Gruppierung die Zuckerfabrik niedergebrannt hat, aus der die Brennerei beliefert wird. 
Interpretieren kann man dieses, wie auch andere Vorkommnisse aus verschiedenen Perspektiven: zum einen ergibt sich daraus die Frage über die eigene Sicherheit. Prinzipiell kann ich mich weiterhin insofern sicher fühlen, da ich mich bemühe den Weg zwielichtiger Gestalten nicht zu kreuzen (übrigens noch ein Grund, kein Gras zu rauchen oder kaufen). Zu diesem Bemühen gehört auch, mich möglichst von der Polzeit fernzuhalten. Möglicherweise einer der auffallensten Unterschiede zwischen Westeuropa und dem Rest der Welt: Wenn der durchschnittliche Berliner einen Polizisten sieht, fühlt er sich sicher. Wer hier einen Polizisten sieht, sucht pronto das Weite.
Als eine andere, und für mich viel beunruhigende Interpretation der obrigen Vorgänge jedoch, erscheint mir die offene Alltäglichkeit, mit der betrogen, bestohlen, sabotiert und erpresst wird. Über die Verbindungen organisierten Kleinkriminalität und paramilitärischer Verbände zur Politik zu spekulieren erscheint sinnlos, so offensichtlich sind sie. Leichthin  füttert Kleinkriminalität ins organisierte Verbrechen und in den Drogenhandel, welches wiederum von paramilitärischen Verbindungen geduldet, weil profitabel ist; diese wiederrum stellen einen Großteil der Regierungsvertreter, deren mangelnde Diäten durch Schmiergelder und Wahlkampagnenunterstützung nett aufgebessert werden. Eine Win-Win-Win Situation sozusagen...
Auffallend weil ebenfalls offensichtlich ist auch, dass niemand das Kind so beim Namen nennen wird wie ich es hier tue. Niemand wird sagen „diese Männer erpressen Schutzgeld“. Vielmehr höre ich häufig Indonesier vom Phänomen der „businessmänner“ reden – ein ominöser Unterton, aber eben auch eine gewisse Bewunderung, schwingen mit. Ebenfalls sprechen viele Laden- und Kantinenbesitzer gern und viel über die Sicherheit ihrer Lokale und Familien. Meistens höre ich Leute sagen, wie gut es ist, dass menschliche Gemeinschaft, wenn auch für einen Preis, Sicherheit des Geschäfts und der Familie bereitstellt. Kuriose Einschätzung, das.
In der Soziolinguistik gilt es als erwiesen, dass die Terminologie mit der Phänomene und Ereignisse beschrieben werden (die Worte die wir Dingen anhaften) unsere Interpretation der Sinnererfahrungen dieser Phänomene vorwegnimmt. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn ich also sage „der Himmel ist blau und das ist so, weil jeder das sagt, auch meine Bücher“, erhebe ich mich selbst dadurch apriori von der Verantwortung, den Wahrheitsgehalt meiner Aussage zu überprüfen. Ich beschließe meine Meinung, bevor ich den Himmel betrachtet habe. An einer US-Amerikanischen Uni gab es dazu mal ein tolles Experiment: mitten in einer Soziologievorlesung rannte auf einmal ein Mann durch den Raum der von einem anderen Mann in Skimaske und mit Messer bewaffnet verfolgt wurde. Der Flüchtende war schwarz, die Identität des zweiten nicht auszumachen. Hinterher sagten 70% der Studenten aus, der Verfolger wäre schwarz, der Flüchtende weis gewesen.    
Vereinfacht ausgedrückt sagt Slavoj Zizek dazu, dass wir zum Beispiel als Tourist in einem Land nur das erkennen, was wir vor Beginn der Reise zu sehen bereit waren. Der menschliche Geist hat eine unglaubliche Gabe, sich selbst zu bescheißen und Wahrnehmung und Wunschvorstellung zu synchronisieren. Wir machen Sinneserfahrungen zu linguistischen Repräsentationen dessen, was wir gerne erlebt hätten. Indem wir es sprachlich rezitieren und daran glauben, wird das subjektiv erwünscht-Erlebte wahr. Glaube versetzt nicht nur Berge, er verändert auch Erinnerungen. Dies ist natürlich eine Verallgemeinerung und kritische Gruppen- und Selbstreflektion kann apriori Urteilen entgegenwirken, geht im Alltag aber leider häufig unter.
Ich erkläre dies, weil ich nicht umhin kann, den Gegebenheiten hier eine ähnlich Interpretation zu geben. Wenn Korruption, Erpressung und Sabotage auf den meisten Ebenen der Gesellschaft an der Tagesordnung sind, hebt sich die Frage nach Recht oder Unrecht auf und wird ersetzt durch das sich-arrangieren. Schließlich leben es einem die Mächtigen des Landes ja vor. Niemand wird von 20Ribu Weggeld unglaublich reich. Und niemand verhungert, weil er es bezahlt. Es geht nicht mehr darum diese Vorgänge anzuprangern oder zu versuchen sie zu ändern, sondern darum, damit zu leben. Sie werden Normalität, und die sprachliche Repräsentation des als normal empfundenen reflektiert diese Realität.
Diese Männer sagen, sie sorgen für die Sicherheit meiner Familie, also erkläre ich was sie tun als Schutz. Für mich ist es einfacher, sicherer und realer zu glauben, dass sie das gegen Gebühr tun, als zu fragen, was sie eigentlich tun. Das ist ein bisschen wie in einem Discounter Kaffee zu kaufen, aber lieber nicht wissen zu wollen, wo der herkommt oder wie er produziert wird. Oder bei Starbucks Kaffee zu trinken und das Gewissen mit dem hypokritischen Versprechen zu beruhigen, 2cent aus jeder Tasse gingen an ein Bildungsprojekt in Nicaragua (zu dem Thema gibt es übrigens gerade einen ungewöhnlich lesenswerten Artikel in der Süddeutschen: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verteilung-von-nahrungsmitteln-notstand-im-globalen-supermarkt-1.1852376). Jedenfalls werden Unwissenheit, oder aber die Weigerung sich Wissen zu verschaffen, so zu Selbstschutzmechanismen in einer täglich erlebten Realität. Dass solcher Selbstschutz, solches arrangieren nötig ist kann ich gut oder schlecht finden, aber es an irgendjemandem ausser mir selbst zu verurteilen.. das fällt schwer.