Monday, 30 December 2013

Gazes Beyond


Spotlight: Mitternacht, Jalan Parangtritis, die Hauptstraße die in mein Dorf führt. Aus Nachlässigkeit und leichtem Alkoholholkonsum geht mir das Benzin aus. Nachts, dunkel gekleidet, ohne Licht oder Handy auf einer Hauptverkehrstraße stehend – ich kann mir sicherere Szenarien vorstellen. Aber gut: Nach Hause sind es 2km, es ist wenig Verkehr und das Motorrad wird schon keiner klauen – in der Stadt schließt schließlich auch niemand die Roller ab. Keine 200m weiter hält eine beräderte, gelb-reflektierende Weste vor mir – der Polizist steigt ab, fragt höflich ob ich mich verlaufen habe und bietet mir nach Erklärung der Situation eine Fahrt zur nächsten Tankstelle an. Keiner von uns trägt den gesetzlich vorgeschriebenen Helm, und das Licht an seinem Motorrad funktioniert ebenfalls nicht. Mein Freund und Helfer: hätte er mich seinerseits beim ohne-Helm-Fahren erwischt, hätte mich das 50ribu Bestechungsgeld oder einen unangenehmen Besuch auf dem Revier gekostet; von meinem nicht existenten Führerschein ganz zu schweigen.

Story: Aus gegeben Anlass möchte ich mich heute mal über die etwas unschöneren Seiten des Lebens in Indonesien auslassen – oder vielleicht über die, die für kurzfristige Besucher weder sichtbar, noch unbedingt relevant sind. Bei längerem hier Leben fallen unbedingt 3 Dinge ins Auge: wie Kleinkriminalität scheinende Banden- fast schon Mafiavorgänge die sich locker bis hoch in die Ministerämter erstrecken, und von Korruption und Schutzgeldern gefüttert werden; religiöser Fundamentalismus bzw. die Diskriminierung von Nicht Moslems, sowie eine etwas allgemeinere Frage nach dem was etwas unsauber gerne “Sichterheit” genannt wird.  Logischerweise füttern diese drei in- und voneinander.
Das mal vorne weg: Indonesien ist sicher. Für weiße Touristen. Anders als in vielen Orten, die bereist habe, fühle ich mich in Jogja wirklich sicher. Wenn ich nachts alleine nach Hause laufe habe ich selten bis nie das Gefühl, mich umgucken zu müssen. Bis jetzt wurde ich nachts wie tagsüber kein einziges Mal blöd angemacht, belästigt oder bestohlen. Das alles war zum Beispiel nachts in Budapest an der Tagesordnung (besonders, wenn man in einer von Neonazis dominierten Gegend wohnt, und Dreadlocks hat). Wiedermal allerdings trügt der Schein. Es fordert genaueres Hinsehen und Aufpassen um bestimmte Dinge zu bemerken.
Nach längerem Aufenthalt in Gegenden Jogjas und Indonesiens, die nicht auf Touristen gepolt sind, beginnen einem gewissen Dinge komisch vorzukommen, fallen bestimme Verhaltenmuster aus der Reihe. In meinem Stammwarung direkt neben der Uni gelegen: der Besitzer Santos, ein grundweg gutgelaunter Mittdreißiger, gerne auf Tischen tanzend zu sehen, versteckt sich auf einmal hinter seinem riesigen Kassiertisch, als zwei stämmige Männer mit langen, in Zöpfen zusammengefassten, öligen Haaren hereinlaufen. Eine geflüsterte Unterhaltung; Gesten, die alles andere als freundlich scheinen. Einer der beiden schaut sich in regelmäßigen Abständen warnend im Warung um: mal gucken, ob einer guckt. Ein Umschlag wird überreicht, einer der beiden klopft (schlägt) Santos noch auf die Schulter und dann sitzen die beiden schon wieder in Ihrem BMW und brausen davon. Übrigens der erste BMW den ich hier sehe.
Auf dem Weg zum Strand: hinter der das Delta überspannenden Brücke versperrt eine rote Schranke die Straße. Letzte Woche war die zwar da, aber offen. Jetzt stehen da Männer in sehr militärisch anmutenden Uniformen (aber ohne sichtbare Waffen), winken einige Fahrzeuge hindurch, halten andere an. Als Weiße werden wir natürlich angestoppt. 20ribu (20000IDR) möchte der Herr von uns haben. Weggeld. Weg-zudiskutieren gibt es da nichts, weil dieser Mann der größten von den zahlenreichen paramilitärischen Vereinigungen des Landes angehört, die unter anderem  in großem Maße den Militärcoup von 1965 getragen haben. Diese spezielle Vereinigung – Pemuda Pancasila - stellt im übrigen den Regierungschef, sowie zwei Drittel aller Minister. Mit diesem Wissen bestückt handeln wir den Herrn auf die Hälfte der Summe herunter, bezahlen und fahren weiter. Einschüchternd, bedrohlich, oder doch nur etwas lästig? 
In einer der wenigen Lokale Jogjas in denen Alkohol ausgeschenkt wird und die nicht der Kategorie „für Touristen gemacht“ angehören: Schon beim reinkommen informiert uns die Bedienung, der Alkohol sei für die nächsten Wochen habis (leer). So erfahre ich, wo der nicht importierte Alkohol in Indonesien überhaupt her kommt, denn als muslimische Provinz, ist die Brennerei auf Java verboten. Natürlich gibt es Schwarzbrenner, die das herstellen, was im englischen als Moonshine bezeichnet wird. Aber die wirklichen Mengen, die später in Läden wie diesem zum Verkauf stehen, werden durch spezielle Lizenzvergebung hergestellt. Einige Dörfer sind als hinduistisch anerkannt, was die Alkoholherstellung religiös legitim macht und ihnen daher staatlich vergebene Lizenzen einbringt. In Solo, ca. 40km von Jogja entfernt gibt es eine solche community. Daher bekommt dieses Lokal seinen Alkohol. Nun ist der Grund für das momentane Fehlen von Alkohol jedoch nicht wie vielleicht anzunehmen, in Rivalitäten über die Lizenzvergabe zu suchen (die es natürlich gibt – Profitgier macht auch vor Moslems keinen Halt). Stattdessen gibt es für die nächsten Wochen keinen Alkohol, weil eine islamisch-fundamentalistische Gruppierung die Zuckerfabrik niedergebrannt hat, aus der die Brennerei beliefert wird. 
Interpretieren kann man dieses, wie auch andere Vorkommnisse aus verschiedenen Perspektiven: zum einen ergibt sich daraus die Frage über die eigene Sicherheit. Prinzipiell kann ich mich weiterhin insofern sicher fühlen, da ich mich bemühe den Weg zwielichtiger Gestalten nicht zu kreuzen (übrigens noch ein Grund, kein Gras zu rauchen oder kaufen). Zu diesem Bemühen gehört auch, mich möglichst von der Polzeit fernzuhalten. Möglicherweise einer der auffallensten Unterschiede zwischen Westeuropa und dem Rest der Welt: Wenn der durchschnittliche Berliner einen Polizisten sieht, fühlt er sich sicher. Wer hier einen Polizisten sieht, sucht pronto das Weite.
Als eine andere, und für mich viel beunruhigende Interpretation der obrigen Vorgänge jedoch, erscheint mir die offene Alltäglichkeit, mit der betrogen, bestohlen, sabotiert und erpresst wird. Über die Verbindungen organisierten Kleinkriminalität und paramilitärischer Verbände zur Politik zu spekulieren erscheint sinnlos, so offensichtlich sind sie. Leichthin  füttert Kleinkriminalität ins organisierte Verbrechen und in den Drogenhandel, welches wiederum von paramilitärischen Verbindungen geduldet, weil profitabel ist; diese wiederrum stellen einen Großteil der Regierungsvertreter, deren mangelnde Diäten durch Schmiergelder und Wahlkampagnenunterstützung nett aufgebessert werden. Eine Win-Win-Win Situation sozusagen...
Auffallend weil ebenfalls offensichtlich ist auch, dass niemand das Kind so beim Namen nennen wird wie ich es hier tue. Niemand wird sagen „diese Männer erpressen Schutzgeld“. Vielmehr höre ich häufig Indonesier vom Phänomen der „businessmänner“ reden – ein ominöser Unterton, aber eben auch eine gewisse Bewunderung, schwingen mit. Ebenfalls sprechen viele Laden- und Kantinenbesitzer gern und viel über die Sicherheit ihrer Lokale und Familien. Meistens höre ich Leute sagen, wie gut es ist, dass menschliche Gemeinschaft, wenn auch für einen Preis, Sicherheit des Geschäfts und der Familie bereitstellt. Kuriose Einschätzung, das.
In der Soziolinguistik gilt es als erwiesen, dass die Terminologie mit der Phänomene und Ereignisse beschrieben werden (die Worte die wir Dingen anhaften) unsere Interpretation der Sinnererfahrungen dieser Phänomene vorwegnimmt. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn ich also sage „der Himmel ist blau und das ist so, weil jeder das sagt, auch meine Bücher“, erhebe ich mich selbst dadurch apriori von der Verantwortung, den Wahrheitsgehalt meiner Aussage zu überprüfen. Ich beschließe meine Meinung, bevor ich den Himmel betrachtet habe. An einer US-Amerikanischen Uni gab es dazu mal ein tolles Experiment: mitten in einer Soziologievorlesung rannte auf einmal ein Mann durch den Raum der von einem anderen Mann in Skimaske und mit Messer bewaffnet verfolgt wurde. Der Flüchtende war schwarz, die Identität des zweiten nicht auszumachen. Hinterher sagten 70% der Studenten aus, der Verfolger wäre schwarz, der Flüchtende weis gewesen.    
Vereinfacht ausgedrückt sagt Slavoj Zizek dazu, dass wir zum Beispiel als Tourist in einem Land nur das erkennen, was wir vor Beginn der Reise zu sehen bereit waren. Der menschliche Geist hat eine unglaubliche Gabe, sich selbst zu bescheißen und Wahrnehmung und Wunschvorstellung zu synchronisieren. Wir machen Sinneserfahrungen zu linguistischen Repräsentationen dessen, was wir gerne erlebt hätten. Indem wir es sprachlich rezitieren und daran glauben, wird das subjektiv erwünscht-Erlebte wahr. Glaube versetzt nicht nur Berge, er verändert auch Erinnerungen. Dies ist natürlich eine Verallgemeinerung und kritische Gruppen- und Selbstreflektion kann apriori Urteilen entgegenwirken, geht im Alltag aber leider häufig unter.
Ich erkläre dies, weil ich nicht umhin kann, den Gegebenheiten hier eine ähnlich Interpretation zu geben. Wenn Korruption, Erpressung und Sabotage auf den meisten Ebenen der Gesellschaft an der Tagesordnung sind, hebt sich die Frage nach Recht oder Unrecht auf und wird ersetzt durch das sich-arrangieren. Schließlich leben es einem die Mächtigen des Landes ja vor. Niemand wird von 20Ribu Weggeld unglaublich reich. Und niemand verhungert, weil er es bezahlt. Es geht nicht mehr darum diese Vorgänge anzuprangern oder zu versuchen sie zu ändern, sondern darum, damit zu leben. Sie werden Normalität, und die sprachliche Repräsentation des als normal empfundenen reflektiert diese Realität.
Diese Männer sagen, sie sorgen für die Sicherheit meiner Familie, also erkläre ich was sie tun als Schutz. Für mich ist es einfacher, sicherer und realer zu glauben, dass sie das gegen Gebühr tun, als zu fragen, was sie eigentlich tun. Das ist ein bisschen wie in einem Discounter Kaffee zu kaufen, aber lieber nicht wissen zu wollen, wo der herkommt oder wie er produziert wird. Oder bei Starbucks Kaffee zu trinken und das Gewissen mit dem hypokritischen Versprechen zu beruhigen, 2cent aus jeder Tasse gingen an ein Bildungsprojekt in Nicaragua (zu dem Thema gibt es übrigens gerade einen ungewöhnlich lesenswerten Artikel in der Süddeutschen: http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/verteilung-von-nahrungsmitteln-notstand-im-globalen-supermarkt-1.1852376). Jedenfalls werden Unwissenheit, oder aber die Weigerung sich Wissen zu verschaffen, so zu Selbstschutzmechanismen in einer täglich erlebten Realität. Dass solcher Selbstschutz, solches arrangieren nötig ist kann ich gut oder schlecht finden, aber es an irgendjemandem ausser mir selbst zu verurteilen.. das fällt schwer. 

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